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Forscher warnt vor Rückbau des Sozialstaates

Butterwegge: Pandemie hat soziale Ungleichheit erkennbar gemacht

Köln – Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge beklagt, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland durch die Corona-Pandemie weiter verstärkt worden sei. Am 18. August ist sein Buch „Kinder der Ungleichheit“ erschienen, das er gemeinsam mit seiner Frau Carolin Butterwegge geschrieben hat. Im Gespräch mit dem Evangelische Pressedienst (epd) sprach der Forscher auch darüber, was Armut in Deutschland bedeutet und wie Klima- und Sozialpolitik zusammenhängen.

Herr Butterwegge, man könnte meinen, Corona ist kein Virus der Ungleichheit, weil es uns alle trifft und beeinflusst. Ganz so ist es aber nicht, oder?
Butterwegge: Nicht das Virus erzeugt Ungleichheit, sondern die Arbeits- und Lebensbedingungen sowie die Wohn-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse sind extrem unterschiedlich. Ein Virus, das alle Menschen gleich schlecht behandelt, trifft auf soziale Ungleichheiten, die dadurch klarer zutage treten.
Das halte ich übrigens für positiv an der Pandemie: Vielen Menschen ist durch sie erst bewusst geworden, dass es einen riesigen Unterschied macht, ob ein Kind im Eigenheim der Eltern mit Garten aufwächst und wie selbstverständlich digitale Endgeräte zur Verfügung hat, oder ob es mit seiner Familie in einer Zwei- oder Dreizimmerwohnung ohne Balkon lebt und sich den Computer mit Eltern und Geschwistern teilen muss. Dass dies sehr ungleiche Bildungschancen der betreffenden Kinder und Jugendlichen nach sich zieht, lässt sich nicht mehr leugnen.
Die Pandemie hat die soziale ­Ungleichheit aber nicht nur deutlicher erkennbar gemacht, sondern sie auch verschärft. Das ­betrifft beispielsweise Wohnungs- und Obdachlose, die nicht zuhause bleiben konnten, oder Werksvertragsarbeiter in der Fleischindustrie, die sich sowohl an ihrem Arbeitsplatz als auch in ihren Gemeinschaftsunterkünften leichter anstecken konnten.

Soziale Ungleichheit ist erst einmal ein sehr abstrakter Begriff: In welchen Bereichen des Lebens ist diese Ungleichheit denn besonders ausgeprägt und sichtbar?
Butterwegge: Grundlegend sind die Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Vor allem die Vermögen sind in Deutschland sehr ungleich verteilt. Auf der einen Seite gibt es so viele reiche Kinder wie noch nie. Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung besitzen 45 Familien in Deutschland so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung – mehr als 40 Millionen Menschen. Auf der anderen Seite leben etwa 1,9 Millionen Kinder von 13,6 Millionen in sogenannten Hartz-IV-Familien. Da gibt es kein Vermögen, höchstens negatives, also Schulden.
Ähnlich ungleich wie Einkommen und Vermögen sind die Bildungschancen der Kinder verteilt. Das gilt auch für ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen. Ein immer noch unterschätzter Lebensbereich ist aus meiner Sicht das Wohnen. Eine Familie, die im 25. Stock eines Hochhauses am Stadtrand lebt, wohnt da natürlich nicht der Aussicht wegen, sondern weil sie nur wenig Geld hat und dort die Miete niedrig ist. Wer an einer Schnellstraße und in beengten Wohnverhältnissen ohne eigenes Zimmer aufwächst, hat eine geringere Lebenserwartung. In einem Nobelstadtteil mit von privaten Sicherheitsdiensten bewachten Villen kann höchstens der Gärtner oder die Haushälterin das Coronavirus einschleppen.

Wann ist denn ein Mensch in Deutschland arm? Woran bemisst sich das?
Butterwegge: Es werden meistens zwei Messlatten angelegt. Eine ist der Bezug von Sozialtransfers. Würde man diese erhöhen, gäbe es aber mehr Kinder im Hartz-IV-Bezug, weil sie dann mehr Eltern beantragen könnten. Deswegen ist die andere Messlatte geeigneter: Nach einer Konvention der Europäischen Union ist armutsbedroht, wer in einem Mitgliedsland weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Nach Zahlen von 2019, also vor der Pandemie, ist das bei einem Alleinstehenden in Deutschland der Fall, wenn er weniger als 1 074 Euro im Monat zur Verfügung hat. Hat ein Paar zwei Kinder unter 14 Jahren, liegt die Armutsrisikoschwelle der Familie bei 2 255 Euro. Rund 2,8 Millionen Kinder unter 18 Jahren wachsen in Familien auf, die armutsbedroht oder einkommensarm sind.

Das ausführliche Interview lesen Sie in der Ausgabe 35/2021

Autor: Franziska Jünger (epd)