Erlangen (buc) – Ella loggt sich ein. Die Mittfünfzigerin sitzt am Rechner in einer Wohnung in Erlangen, deren Anschrift geheim bleiben soll. Sie ist ehrenamtliche Helferin bei
der bundesweiten Telefonseelsorge, die in der fränkischen Universitätsstadt von der Offenen Tür organisiert wird, einer katholischen Beratungseinrichtung. Ella bietet heute Unterstützung nicht
nur am Telefon an, sondern im Chat – Menschen in Notlagen können sich im Internet unter www.telefonseelsorge.de mit ihr, einer Kollegin oder einem Kollegen kurzfristig zu einem Austausch
verabreden.
Menschen, die sich an die Chatseelsorge wenden, geben sich meistens sogenannte Nicknames, weil sie aus verständlichen Gründen anonym bleiben wollen. Ella ist heute mit „Josefine“ im Austausch.
Die berichtet ihr freimütig, was sie den Kontakt zu den Beratern hat suchen lassen: „Die größte Belastung ist irgendwie gerad nirgendwo da draußen offen reden zu können“. Josefine dürfte Anfang
20 sein, leidet unter einem komplexen posttraumatischen Belastungssyndrom, wie sie es nennt, hat mehrere Schulen abgebrochen.
Keine Daseinsberechtigung
Ella fragt vorsichtig nach: Gab es Konflikte, weil sie Dinge anders gemacht hat als von den Lehrern erwartet? „Na ja“, lautet die Antwort, „immer ein zwei Tage hab ich geschafft und dann hat es
mir für zwei Tage den Stecker gezogen im Körper es ging gar nix Akku komlett alle“. Josefine hat dann später einen externen Schulabschluss gemacht, begann ein Freiwilliges soziales Jahr, das sie
allerdings abbrach. Ihre Leidensgeschichte begann schon als Kind: „Ich hab das Gefühl ich wollte nie auf der Erde sein“, schreibt sie. „Ich war 6 als ich meinen Eltern erklärt habe ich hab hier
keine Daseinsberechtigung“. Erinnern kann sie sich selbst nicht daran, aber Mutter und Vater erzählten es ihr.
Die Chatseelsorge ist ein eigenes Beratungsformat der bundesweiten Telefonseelsorge, die von den beiden großen Kirchen organisiert wird. „Wir in Erlangen haben im Sommer damit begonnen“,
berichtet die Leiterin der Offenen Tür, Monika Tremel. Sie selbst hat zunächst eine Fortbildung gemacht und danach den Ehrenamtlichen die Chatseelsorge nähergebracht. Fünf der Freiwilligen
erklärten sich bereit mitzumachen: Sie ließen sich in die Technik einführen, lernten Merkmale und Standards bei der Chatberatung kennen, samt deren Eigenheiten im Unterschied zu Telefongesprächen
oder persönlicher Beratung.
Seit August nun ist das Team der Chatberaterinnen – es sind alles Frauen – im Einsatz. Auch Monika Tremel selbst übernimmt regelmäßig Dienste. Sie selbst hätte nicht gedacht, dass das Chatten ein
Format ist, „bei dem man Menschen in ihrer Lebenssituation wirklich weiterhelfen kann“. Es sind eher die jüngeren Generationen, die das Schreiben bevorzugen, die 15- bis 40-Jährigen. „Das gibt
auch die Statistik her“, sagt die Pastoralreferentin. Gerade in den Lockdownzeiten in der Corona-Pandemie seien die Chatzahlen bei der Telefonseelsorge in die Höhe geschnellt. „Da haben sich
Menschen wirklich entlastet“, berichtet Tremel.
Die Telefonseelsorge in Deutschland verzeichnet jährlich rund acht Millionen Anrufe. Für die Chatberatung gibt es noch keine genauen Zahlen, sie steigen jedenfalls kontinuierlich. Technisch gibt
es bei der Telefonseelsorge eine eigene Plattform, bei der sich Betroffene zu einer Onlineberatung anmelden können. Dort werden dann relativ kurzfristig Termine eingestellt, die man anklicken
kann. Der Austausch erfolgt dann in einem sogenannten Chatraum. Es gibt eine eigene Chatsprache, Rechtschreibung oder korrekte Satzzeichen spielen eine untergeordnete Rolle. Wie in den sozialen
Medien sind Smileys beliebt. Die Zeit für einen Chat ist begrenzt: in der Regel nicht länger als eine halbe Stunde.
Schon in diesem überschaubaren Zeitraum kämen „tiefgehende Themen“ zur Sprache, erzählt Monika Tremel. Vieles könne man gar nicht vertiefen. „Wichtig ist, da zu sein, Räume zu öffnen und
wahrzunehmen, wie dicht die Problemlage bei den Menschen sein kann.“ Die Anonymität in Verbindung mit der Schriftlichkeit sorge dafür, „dass man sich viel ungehemmter alles von der Seele
schreiben kann“, so die Theologin. Für sie und die ehrenamtlichen Beraterinnen geht es nicht darum, ob sie in der einen oder anderen Situation richtig oder falsch reagieren: „Wir bieten ein
Gespräch an und nehmen das Anliegen auf.“
Ella und Josefine sind mittendrin im Dialog, der Austausch ist intensiv und verlangt beiden eine Menge ab. Denkt Josefine manchmal daran, sich selbst zu töten? In vielen Gesprächen kommt das
Thema früher oder später darauf, auch in diesem Chat. „Jupp, und das ist exakt das Problem“, sagt Josefine lapidar. „Schwarz gehört genauso zu mir wie bunt. Ich würde sagen: Faber Castell, der
große Kasten.“ Doch sie fügt hinzu: „ich weiß ich muss noch bleiben ich bin hier noch nicht fertig hab hier noch eine Aufgabe...“. Josefine erzählt von einem Pferdeprojekt, das sie fasziniert.
Ein Projekt, das auch eine spirituelle Dimension hat.
Sie kommt zurück zu den Therapien, die sie gemacht hat („Ich hab das System durch“) und erzählt vom „Tanz auf dem Seil“. „Wir haben noch vier Minuten“, schreibt Ella, „ich wünsche dir alles gute.
es war gut, dass du dich gemeldet hast, du kannst richtig stolz auf dich sein“. Sie könne jederzeit anrufen, wenn es ihr schlecht gehe, tagsüber oder auch nachts. „Anrufen find ich schwierig“,
antwortet Josefine. „Immer schreiben zu könne fänd ich gut.“ Ella tippt in den Rechner: „immer schreiben geht auch“. Dann loggt sie sich aus.