Berlin (KNA) - Trotz der Austrittswelle in beiden großen Kirchen ist das Bedürfnis nach Religion in Deutschland nach Ansicht des Zentralrats der Juden ungebrochen. „Die riesige
Austrittswelle, die wir etwa in Köln sehen, ist das Ergebnis des Verhaltens der Kölner Kirchenführung in Bezug auf den Missbrauch“, sagte Vizepräsident Abraham Lehrer bei einer Veranstaltung der
interreligiösen Denkfabrik „Schalom Aleikum“ des Zentralrats am Mittwochabend in Berlin.
Im Zentralrat erlebe man ebenfalls, dass Menschen jüdische Gemeinden verließen. „Wir versuchen, durch wissenschaftliche Forschungen, durch Befragungen und Gespräche mit den Menschen, die
Beweggründe für das Verlassen der Gemeinschaft zu eruieren“, sagte Lehrer. „Das Ergebnis soll natürlich sein, dass wir Angebote machen, die die Menschen dazu bringen, zurückzukehren.“
Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU), die auch Sprecherin des jüdischen Forums in der CDU ist, berichtete von Erfahrungen nach dem Zugattentat in Neumünster. Menschen hätten
damals Trost und Hoffnung gesucht. Sie beobachte aber, dass viele Menschen heute individuelle Zugänge zur Religion fänden. „Die Menschen sind nicht mehr so wie früher, dass sie gesagt haben, das
ist mein Verein, das ist meine Gemeinde.“
Dagegen warnte Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) davor, so zu tun, als ob es mit der Kirchenmitgliedschaft schon irgendwie werden werde. Dass immer mehr Menschen aus der
Kirche austräten, habe nicht nur mit dem Missbrauch zu tun. „Viele Menschen haben auch überlegt: Wo kann ich sparen?“, sagte Göring-Eckardt. „Wenn ich die Beerdigung auch so bekommen kann, dann
ist die Bindung an die Institution nicht mehr so groß.“
Es gebe in Deutschland eine Sehnsucht nach Orientierung, Werten und Heimatgefühl. „Aber ich würde nicht sagen, dass das auch eine Chance für die Institution ist“, sagte Göring-Eckardt. Die
Kirchen müssten sich neu überlegen, welche Rolle sie künftig in der Gesellschaft spielen wollten.