Zürich (KNA) – Der Stuhlkreis ist ein Überbleibsel aus Pandemiezeiten, erklärt Klinikseelsorgerin Sonja Kaufmann. Vorher standen die Stühle hintereinander aufgereiht mit Blick zum Altar - üblich. Aber "üblich" passt hier nicht wirklich. "Jeder Gottesdienst in der Psychiatrie ist anders und ganz anders als draußen", sagt Kaufmann. Seit etwa vier Jahren betreut sie hier Patientinnen und Patienten mit den unterschiedlichsten Diagnosen.
15 Menschen sind am heutigen Sonntagvormittag im Raum der Stille der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich am Standort Lengg zusammengekommen. Einer überlegt es sich kurzfristig anders und verlässt schnell noch den sonnendurchfluteten Raum. Es sei ihm heute zu viel, erklärt er Kaufmann, die zuvor jeden persönlich begrüßt hat.
Einige Anwesende kämen regelmäßig hierher, aktuelle und ehemalige Patienten. Ein Mann hat heute zwei kleine Kuchenpakete mitgebracht, um sich zu bedanken. Eins für die Seelsorgerin, eins für die Organistin, die ehrenamtlich die Gottesdienste begleitet. Heute gibt es sogar doppelte musikalische Untermalung - ein weiterer ehemaliger Patient kommt in unregelmäßigen Abständen und spielt auf seinem Cello. Alle sind sichtlich angetan, als zu Beginn die Sarabande aus der Suite No. 11 von Händel erklingt.
Ohnehin wird die folgende Dreiviertelstunde eine emotionale Angelegenheit. Zwei Gottesdienstbesucher kämpfen schon nach wenigen Minuten mit den Tränen; ein Mann hält sich ein Tuch vors Gesicht. "Es ist immer ein Balanceakt. Es kommt vor, dass gesprochene Worte bei Menschen anders ankommen, als sie gemeint sind", erklärt Theologin Kaufmann. "Viele Patienten reagieren unerwartet emotional." Das gilt insbesondere in einem Umfeld, in dem (religiöse) Gefühle im Spiel sind.
Auch heute ist eine Frau nicht zufrieden mit den Worten, die Kaufmann zur Erläuterung des vorgetragenen Bibeltextes sagt. "Sie haben 'unser Gott' gesagt", sagt die Frau, die schon die ganze Zeit leicht mit den Beinen zitternd auf ihrem Stuhl sitzt. "Wollen Sie damit etwa andeuten, dass es mehrere Götter gibt? Dann werde ich jetzt gehen."
Die Stimmung im Raum ist jetzt merklich angespannt. Ruhig erklärt Kaufmann, dass es sich um ein Missverständnis handle. Dennoch steht die Patientin einige Minuten später auf und verlässt den Gottesdienst. Zwei weitere folgen. Enttäuscht sei sie von der Kirche, erklärt die Frau, die jetzt weinend auf der Parkbank vor der Kapelle sitzt. Sie wollte eigentlich gar nicht herkommen: "Aber ich wollte sehen, ob ich Gott oder den Teufel finde."
Solche Situationen kommen manchmal vor, weiß Kaufmann. Die Dynamik, die ein Gottesdienst nimmt, sei schwer vorauszusehen und sehr von der Stimmung einzelner Anwesender abhängig. Die heutige Unterbrechung hat die Gruppe sichtlich verunsichert.
Ein Gespräch kommt trotzdem zustande. Eliah hört Gott auf dem Berg Horeb - nicht in Sturm und Donner, sondern im feinen Säuseln des Windes. "Welche Gedanken beschäftigen Sie, wenn Sie das hören?", fragt Kaufmann.
Beim Fürbitt- und Dankgebet werden anschließend kleine Steine - symbolisch für Schweres - in die Mitte zu der Blumenvase auf dem Boden gelegt, für Leichtes steht eine Feder. Das Ritual erinnert an eine Katechese für Kinder - niederschwellig und doch tiefgründig. Immer wieder steht zwischendurch jemand auf. Eine Frau hat ein Glöckchen an ihren Schuh gebunden. Sie läuft zweimal geräuschvoll heraus und wieder herein. Aber daran stört sich niemand. Das funktioniert hier eben anders als "draußen".
"Das könnten wir ruhig öfter machen", sagt ein Patient im Anschluss. "Leider ist nur am Sonntag Gottesdienst. Ich gehe deshalb zweimal in der Woche draußen in eine andere Kirche." Sie und das Seelsorgeteam würden gerne auch gemeinsame Gebetszeiten in der Woche anbieten, stimmt ihm Kaufmann zu. Allerdings fehle dafür die Kapazität. Die Besuche bei den einzelnen Patientinnen und Patienten stünden an erster Stelle.