Hannover (KNA) – Viel mehr Missbrauchsopfer als erwartet: Laut einer am Donnerstag vorgestellten Studie für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) sind seit 1946 mindestens 9.355 Kinder und Jugendliche in evangelischer Kirche und Diakonie sexuell missbraucht worden. Bislang war von rund 900 Missbrauchsopfern die Rede. Nach den auf Basis von Hochrechnungen ermittelten Zahlen gibt es zudem 3.497 Beschuldigte, davon gut ein Drittel Pfarrer oder Vikare.
Die Wissenschaftler erklären in der umfangreichen Studie (Seite 725), dass die offiziell gemeldeten Zahlen von 1.259 Beschuldigten (davon 511 Geistliche) und 2.174 Betroffenen "unter dem Vorbehalt zu sehen sind, in keiner Weise das gesamte Missbrauchsgeschehen in den Landeskirchen und im Diakonischen Werk abzubilden".
Daher haben sie mit dem Hinweis auf die vielen nicht zur Verfügung stehenden Akten, auf umfangreiche Daten aus einer einzigen Landeskirche sowie auf Erfahrungswerte anderer Untersuchungen eine Hochrechnung vorgenommen. Daraus ergibt sich "in der Addition eine geschätzte Gesamtzahl von 3.497 Beschuldigten (darunter 1.402 Pfarrpersonen) und 9.355 Betroffenen".
Die kommissarische EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs sagte, sie habe von der Studie "vieles erwartet, aber das Gesamtbild hat mich doch erschüttert". Die Untersuchung vermittle schwarz auf weiß, "mit welch perfider und brutaler Gewalt Erwachsenen, Jugendlichen und auch Kindern unsägliches Unrecht angetan wurde - mit schweren Verletzungen an Leib und Seele, mit zum Teil lebenslangen Folgen".
In Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen habe es ein Wegsehen gegeben, sagte die Bischöfin. Kirche und Diakonie hätten eklatant versagt und seien Betroffenen nicht gerecht geworden. "Wir haben sie zur Tatzeit nicht geschützt und wir haben sie nicht würdig behandelt, als sie den Mut gefasst haben, sich zu melden." Klar sei: "Wir haben täterschützende Strukturen."
Die bisherigen Zahlen haben laut Fehrs nur einen Teil des Hellfelds erfasst und sind nun nach oben zu korrigieren. Aber darüber hinaus müsse es dringend eine Dunkelfeldstudie geben, die sich auf die gesamte Gesellschaft beziehen müsse.
Laut der von einem unabhängigen Forscherteam erarbeiteten Studie waren rund ein Drittel der Täter Pfarrpersonen, also Pfarrer oder Vikare. Nach Angaben der Wissenschaftler zeigt die Untersuchung nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs". Ausgewertet wurden rund 4.300 Disziplinarakten, 780 Personalakten und rund 1.320 weitere Unterlagen. Zum Vergleich: Bei der MHG-Studie der katholischen Deutschen Bischofskonferenz 2018 wurden rund 38.000 Personalakten durchgesehen.
Weiter heißt es in der Studie, dass rund 64,7 Prozent der Opfer männlich und rund 35,3 weiblich waren. Bei den Beschuldigten handele es sich fast nur um Männer (99,6 Prozent). Rund drei Viertel von ihnen seien bei der Ersttat verheiratet gewesen.
Bei der Schwere der Tat gibt es nach der Untersuchung eine große Spannweite: Bei den meisten Taten handelt es sich aber um sogenannte Hands-on-Handlungen, das heißt, es gab einen Körperkontakt mit den Opfern - von nicht notwendigen körperlichen Hilfestellungen im Sportunterricht bis hin zur Penetration.
Die EKD hatte die Studie vor gut drei Jahren für rund 3,6 Millionen Euro in Auftrag gegeben. Auch Betroffene waren beteiligt. Koordinator ist der Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Hannover, Martin Wazlawik.