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Zu Gast im Wohnzimmer des Papstes

Papst Franziskus mit (von links) Pfarrer Matthias Wünsche aus Bamberg, Pfarrer Kilian Semel (Bistum München/Freising), und Pfarrer Liudger Gottschlich aus dem Erzbistum Paderborn. Foto: privat
Papst Franziskus mit (von links) Pfarrer Matthias Wünsche aus Bamberg, Pfarrer Kilian Semel (Bistum München/Freising), und Pfarrer Liudger Gottschlich aus dem Erzbistum Paderborn. Foto: privat

Rom/Bamberg (buc) – Wenn über Missbrauch und sexualisierte Gewalt in der Kirche gesprochen wird, ist von Priestern zumeist als den Tätern die Rede. Dass sie auch selbst Opfer und Betroffene sein könnten, steht weniger im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Einige dieser Seelsorger, die missbraucht wurden, hat Papst Franziskus nun zu einer privaten Begegnung im Vatikan eingeladen. Dabei war auch Pfarrer Matthias Wünsche, einer der Sprecher des Bamberger Betroffenenbeirats.

Der Termin in der Casa Santa Marta kam im Rahmen eines Vernetzungstreffens in Rom zustande, zu dem der Betroffenenbeauftragte des Erzbistums München und Freising, Pfarrer Kilian Semel, mehrere Geistliche aus Deutschland eingeladen hatte. Wie viele Priester selbst missbraucht wurden, zumeist als Kinder oder Jugendliche, lässt sich nur schätzen – in Deutschland sind es wohl mindestens 20. Allein im Erzbistum Bamberg hat Wünsche Kontakt zu zwei weiteren Geistlichen, die betroffen sind.

Semel berichtete im Vorfeld des mehrtägigen Treffens Kardinal Reinhard Marx von den Plänen, und der sagte prompt: „Ich mache euch einen Termin beim Papst.“ So geschah es dann auch, Franziskus schickte eine handschriftliche Nachricht, „dass wir am Dienstag um 9 Uhr da sein sollen“, schildert Pfarrer Wünsche im Gespräch mit dem Heinrichsblatt. Die vier Besucher wurden zunächst in ein Empfangszimmer gebeten, „so groß wie ein Klassenzimmer“. Dann hieß es aber: Der Papst will euch in seiner Wohnung haben.

„Das hässliche Gesicht“

Zu dem Treffen bat Franziskus einen Übersetzer hinzu, da er zwar sehr gut Deutsch versteht – Jorge Mario Bergoglio studierte als junger Jesuit ein Jahr in der Bundesrepublik. Doch im Sprechen habe er „keine Übung mehr“, wie er selbst sagte. Zu den Priestern äußerte sich der Papst recht unverblümt. Den Missbrauch nannte er „das hässliche Gesicht der Kirche“, und viele Geistliche und Gläubige lebten noch in der Vorstellung, die Kirche sei eine „engelhafte Institution“. Die deutschen Priester legten dem Kirchenoberhaupt dar, wie groß der Spagat ist, den sie zu bewältigen haben: einerseits eine Position in der Kirche, auf der anderen Seite sind sie parteiisch für die Missbrauchsbetroffenen, und parteiisch auch, die Behandlung der eigenen Schäden betreffend. „Ein Spagat der täglich belastet“, sagt Wünsche, der selbst jahrelang schwer krank war.

Von den vier Gästen beim Papst sind auf dem oben abgebildeten Foto nur drei zu sehen. Der vierte möchte nicht in der Öffentlichkeit als Missbrauchsopfer erscheinen. Dass sich nicht alle betroffenen Geistlichen offenbaren wollen und können, war zugleich einer der Gesprächsinhalte: Die Reaktionen bei Gemeinden und Vorgesetzten, wenn Priester sich „offenbaren“, fallen nämlich sehr unterschiedlich aus. Viele haben Angst davor, möchten das, was ihnen angetan wurde, lieber nicht publik werden lassen. Da geht es den Geistlichen nicht anders als den betroffenen Laien. Drei von sieben Mitgliedern des Bamberger Betroffenenbeirats arbeiten im Verborgenen mit.

Die Priester sollten „mit Kraft, Würde und Entschiedenheit parteiisch sein für die Betroffenen“, legte der Papst seinen Besuchern aus Deutschland nahe. Er verkörpere die „Option für die Betroffenen“, schildert Pfarrer Wünsche, analog zur „Option für die Armen“ aus der Theologie der Befreiung: „Franziskus ist nicht unparteiisch zwischen Tätern und Opfern – er hat seine Wahl klar getroffen. Kirche muss auf der Seite der Geschädigten stehen, das ist seine Überzeugung. Da darf es keine Neutralität geben.“

Was die Gäste mit am meisten erstaunte: Jorge Mario Bergoglio schafft es in fünf Minuten, wenn er will, von jedem Protokoll abzusehen. So sei ein „relativ ebenerdiges Gespräch am Wohnzimmertisch“ entstanden, so Wünsche. Der Papst habe es wirklich geschafft zuzuhören, die Fragestellungen genau zu erfassen und wie ein Seelsorger zu antworten. Trotz seiner körperlichen Angeschlagenheit sei er sehr präsent und aufmerksam. Eine Dreiviertelstunde nahm sich Franziskus Zeit für die Betroffenen, „drei Mal so lang wie ein regulärer Besuch eines Staatsoberhaupts“. Zum Abschied gab es für jeden der Gäste den persönlichen Segen des Papstes mit Handauflegung. Und die klare Ermutigung: „Arbeitet vor Ort für die Betroffenen. Macht es gut.“

Gelegenheit dazu haben Matthias Wünsche und seine Beiratskollegen bereits beim Heinrichsfest am 14. Juli, wenn sie wie im Vorjahr einen „Spaziergang“ über den Domberg unternehmen. Von 13 bis 16 Uhr stehen sie zum Gespräch bereit und verteilen unter anderem Informationen, wie sich Betroffene an der jüngst gestarteten Bamberger Missbrauchsstudie beteiligen können. Eine verbale Auseinandersetzung mit Vertretern des Diözesanrats wie 2023 ist diesmal übrigens nicht zu erwarten: Das Verhältnis zwischen Betroffenenbeirat und dem Laiengremium im Erzbistum hat sich deutlich entspannt, man ist im Gespräch. Und jüngst haben die Betroffenen auch ausführlich mit Erzbischof Herwig Gössl gesprochen.