Bonn (KNA) – Ein strahlend schöner Weihnachtsbaum, ein leckeres Festtagsmenü, mit Liebe ausgesuchte Geschenke - all das macht Weihnachten aus. Zugleich ist es eher Nebensache, wenn Familien zusammenkommen. "Wie schön wäre es, wir würden ein gutes Gespräch hinbekommen", sagt Stephan Schäfer. Das Fest biete sich dafür besonders an, "man kommt zusammen und nimmt sich Zeit füreinander", sagt der Autor von "Das Buch, das bleibt". Darin möchte er erwachsene Töchter und Söhne einladen, sich auf Augenhöhe mit ihren Eltern auszutauschen und diese - aus der Erwachsenenperspektive - noch einmal neu kennenzulernen, und das nicht nur an den Feiertagen.
"Wir wissen über unsere Freunde und Geschwister mehr als über unsere Mutter" - diese Erkenntnis rührte ihn im Gespräch mit seiner Schwester vor eineinhalb Jahren an. Für Schäfer war das der Ausgangspunkt, um Freunden und Bekannten die Frage zu stellen, wie gut diese ihre Eltern kennen. "Fast niemand wusste, wer seine Eltern wirklich sind", erinnert sich Schäfer im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Wenn das Verhältnis "einrastet"
Ähnlich sieht es der Schauspieler und Schriftsteller Joachim Meyerhoff, der in seinem neuen Buch "Man kann auch in die Höhe fallen" von zehn gemeinsamen Wochen mit seiner Mutter an der Ostsee erzählt. Er habe eine Zäsur gebraucht, doch auch die Erfahrung habe ihn interessiert, sagte er der "Süddeutschen Zeitung": "Würde man in einer Umfrage wissen wollen, wer gerne mit seinen Eltern zwei Monate verbringen möchte, wäre die Antwort wohl bei den allermeisten: Danke, nein."
Ab einem gewissen Zeitpunkt im Leben sei das Verhältnis zu den Eltern "eingerastet", so Meyerhoff: "In der Zuneigung, in ritualisierten Begegnungen, im Übereinander-genervt-Sein. Weil unser Bild auf sie aus der Position des Kindseins definiert ist, verstellt das oft den Blick darauf, wer diese Menschen eigentlich sind."
Schäfer hat beobachtet: Wenn Eltern nicht mehr lebten, seien die Freunde traurig gewesen, sie nicht besser gekannt zu haben. "Sie fühlten sich ertappt und haben es bedauert, bestimmte Fragen nicht gestellt zu haben." Daraufhin habe er mit Freunden und Bekannten 450 Fragen gesammelt.
Aha-Erlebnis
100 davon sind nun in seinen beiden - mal an die Mutter, mal an den Vater - gerichteten Büchern zu finden. "Wo fühlst Du Dich am meisten zu Hause?", "Wobei vergisst Du alles um Dich herum?", "Was war das größte Wagnis Deines Lebens?", heißt es etwa in dem Mutter-Buch. Auch seiner eigenen Mutter habe er diese Fragen gegeben. "'Ich wusste gar nicht, dass Du Dich so für mich interessierst'", freute sich Schäfer über deren Rückmeldung. "Fragen können Brücken bauen und Herzen öffnen", ist der Autor des Bestsellers "25 letzte Sommer" überzeugt. Auch er hatte ein Aha-Erlebnis: "Ich wusste nicht, dass meine Mutter Kinderkrankenschwester werden wollte und dass sie mit ihren Blumen auf dem Balkon spricht."
Wie kann es sein, dass wir unsere Eltern - die Menschen, mit denen wir oft fast 20 Jahre zusammengelebt haben - gar nicht wirklich kennen? "Kinder sind minderjährig darauf angewiesen, dass Eltern für sie Verantwortung übernehmen und sie beschützen. Dadurch besteht eine Asymmetrie in der Beziehung. Die Eltern würden die Kinder überfordern, wenn sie all ihre Sorgen und Gedanken mitteilen würden", erklärt die Münsteraner Ehe-, Familien- und Lebensberaterin Andrea Stachon-Groth. Über fast zwei Jahrzehnte habe man meist eine einseitige Beziehung gepflegt, die Eltern fühlten sich verantwortlich.
Abschied von alten Rollen
Auch später behalte man diese Rolle unbewusst bei. "Es ist dann nicht so einfach, als Erwachsener auf Augenhöhe zu kommen." Dafür müsse man seine Rolle ein Stück weit verlassen. "Gut wäre eine neugierige Haltung und Interesse an der Perspektive des anderen", sagt die Psychologin.
Buchautorin Peggy Elfmann ("Meine Eltern werden alt. 50 Ideen für ein gutes Miteinander") hat ebenfalls festgestellt, dass sie als Erwachsene mit eigenem Leben zu wenig von der Lebenswelt und dem Alltag ihrer alten Eltern wusste: etwa, wo sie sich gerne aufhielten, welche Menschen ihnen wichtig waren, welche Musik sie liebten.
Sie plädiert dafür, sich als erwachsener Mensch früh um eine gute Verbindung mit den Eltern zu kümmern und sich für sie und ihre Leben interessieren - lange bevor diese vielleicht gebrechlich und vergesslich werden. Miteinander schöne Dinge zu erleben - etwa gemeinsam zu kochen, Lieblingsmusik zusammenzustellen, eine Kiste mit Herzensgegenständen zusammenzutragen, sich zu den Lieblingsorten der Eltern führen zu lassen - sorge zudem für gemeinsame Glücksmomente.
"Jeder Mensch möchte gesehen werden", ist Schäfer überzeugt. Mit seinem Buchprojekt - auf jeder Seite steht eine Frage; der restliche Platz ist für persönliche Notizen freigehalten - möchte Schäfer "etwas Bleibendes schaffen". Seine Idee: Eltern kaufen es, füllen es aus und schenken es ihren Kindern; oder aber Kinder schenken es den Eltern mit dem Wunsch, darüber ins Gespräch zu kommen und es gemeinsam auszufüllen.
"Ein Zeichen der Wertschätzung"
Wie aber gelingt der Einstieg? Den ersten Schritt können beide Seiten machen, findet Schäfer. Die Aussage "'Es gibt so viel, was ich noch von Dir wissen möchte' - das rührt doch jeden", sagt er. Wichtig sei ehrliches Interesse am anderen - für ihn "ein Zeichen der Wertschätzung füreinander".
Doch wie den richtigen Rahmen finden an Weihnachten - zwischen Kaffeetafel und Kirche, Bescherung und Anruf von Tante Lisbeth? Wie bei Paargesprächen sei "an den Tisch setzen und reden" nicht die beste Idee, sagt die Familienberaterin Stachon-Groth. Besser sei ein gemeinsamer Spaziergang, gemeinsames Kochen oder Spielen. "Man sollte auf das zurückgreifen, wo man gut in Kontakt war, wo sich Gespräche nebenbei entwickeln können und nicht so krampfhaft sind."
Sich Zeit nehmen und dem anderen ehrliches Interesse und Aufmerksamkeit zu schenken, das ist für Schäfer "besser als nicht eingelöste Gutscheine." Wenn es gelinge, dem anderen das Gefühl zu vermitteln, wirklich gesehen zu werden, "dann kann das zu einem ganz besonderen Weihnachten werden".